Die stummen Klaviere der Sammlung Dohr
Zur Einführung
Musizieren, vor allem das rein mechanische Spiel von Fingerübungen, ist zu allen Zeiten mehr oder minder als Lärm empfunden worden. Insbesondere der "Siegeszug des Pianofortes" als bürgerliches Statussymbol und eine intensive Verbreitung in beinahe jeden gutsituierten bürgerlichen Haushalt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts führten zu einem allerorten vernehmbaren "übelärm". Zur Reduzierung dieses Lärms kamen nach dem Aussterben des bis weit nach 1800 noch als übeinstrument eingesetzten, insgesamt aber eher wenig verbreiteten Klavichordes bereits früh "Stumme Klaviaturen" zum Einsatz.
Bei den "Stummen Klaviaturen" kann man grundsätzlich zwei Arten unterscheiden: transportable und stationäre. Gewicht, Ausmaße (bzw. "Handlichkeit") und z.B. das Vorhandensein von Tragegriffen sind hierbei Kriterien. In Zeiten, als Reisenden Gepäckträger zur Verfügung standen, waren diese Kriterien zudem zu relativieren.
Fremdsprachliche Begriffe für "stumme Klaviatur": digitorium; dumb piano, silent piano, practising piano.
Das Stumme Klavier von 1880 ist sicherlich - mit seinen vier einzuschraubenden Beinen und dem Fehlen von Transportgriffen - das "stationärste" Instrument. Besonders ins Auge sticht bei diesem Instrument der große Ambitus von sieben Oktaven, der dem damaligen Konzertflügel-Ambitus entsprach. Beim Virgel Practise Piano lassen sich immerhin - vergleichbar einem Keyboard aus den 1980er-Jahren (oder banaler: einem Bügelbrett ...) - die Beine einklappen: Das Virgil Practise Piano lässt sich also nach Gebrauch wieder wegstellen, muss nicht zum Blickfang für Hausgäste werden. Die Stumme Klapp-Klaviatur geht da noch einen Schritt weiter: Sie ist sperrig, unhandlich und - hässlich!, sollte also potentiellen Besucher-Blicken keineswegs ausgesetzt werden. Das Stumme Klavier von 1880 ist wohl das einzige, das einem gehobenen Anspruch als "dekorativem Möbel" gerecht wird. Das Virgil Practise Piano war immerhin fotogen (s.u.) und wies seinen Besitzer als extrem fleißig übenden aus.
Stiftung Weimarer Klassik: Stumme Klaviatur von Franz Liszt, Liszthaus Weimar; 6 Oktaven Ambitus.
Reisende Pianisten benutzten Stumme Klaviaturen (der Begriff "Stummes Klavier" ist insofern falsch, als dass die Klaviaturen durchaus auch z.B. zu einer Orgel gehörig sein könnten), um während der Fahrt oder in ihrer Absteige die Finger geschmeidig zu halten. Bekannt - und bei online-Auktionen gerne herangezogen - wird die Stumme Klaviatur, die Franz Liszt einige Jahre auf seinen Reisen mitführte. Mit immerhin sechs Oktaven Umfang (allerdings von C1 bis c4) war sie recht sperrig, kam aber immerhin den übewünschen Liszts nach: Skalen- und Arpeggien-Spiel über mehrere Oktaven - je nach Entstehungsjahr annäherungsweise über den gesamten Ambitus der damaligen Konzerthammerflügel. Durch die notwendigen Beschränkungen in Größe und Ausdehnung haben Reise-Klaviaturen ansonsten einen geringe(re)n Ambitus (so haben die drei Koffer-übeklaviaturen lediglich einen Umfang von vier bis fünf Oktaven, wobei der fünfoktavige Ambitus unhistorisch von C1 bis c3 und eben nicht von F1 bis f3 läuft) und eine primitive Federmechanik, die ein Gefühl, eine Flügel- oder Pianomechanik zu bedienen, erst gar nicht aufkommen lässt.
Eine - erwähnenswerte - Ausnahme ist sicherlich der Beweggrund, den Werner Czesla für den Erwerb einer stummen Klaviatur anführt: sein seinerzeit schmales studentisches Budget, das ein klingendes Klavier für das heimische üben verunmöglichte.
Die jüngste Entwicklung stellen zweidimensionale Papp- oder Kunststofftasturen dar. Hier sind lediglich noch die Tasten aufgedruckt; die Finger des Spielers sind auf einem bedruckten Papp- oder Kunststoffstreifen unterwegs - es gibt keine beweglichen Tasten. Diese Entwicklung steht im deutlichen Gegensatz zu den Fortschritten, die die mechanischen Stummen Klaviaturen zu machen bereit waren: Billige Lösungen ersetzen immer wieder die durch Schwerkraft zurückfallende Taste durch Federn - hier wurde und wird aus dem "Anschlag" ein "Tastendrücken", wie man es von elektrischen Orgel(spieltische)n her kennt. Die stumme Klaviatur von 1880 arbeitet immerhin mit "normal langen" Waagebalken und "gewichteten Tasten": Am Ende jeden Tastenhebels ist ein Bleigewicht aufgeklebt, das das Gewicht der Hammermechanik substituieren soll. Die mit Abstand aufwändigste - und daher auch patentierte - Konstruktion weist jedoch das Virgil Practise Piano auf: Der "Anschlag" wird durchaus "echt" imitiert, zudem gibt es verschiedene Möglichkeiten zur Feinjustierung und - das Paradoxon zieht durch die Hintertür ein - zur hörbaren Rückmeldung der Präzision des Anschlags auf dieser Stummen Klaviatur!
Bei Führungen durch das Pianomuseum löst die Konfrontation mit "Stummen Klavieren" stets zunächst ungläubiges Staunen aus, ist es doch für Musiker wie Nichtmusiker gleichermaßen unverständlich, wie man Musik ohne Musik machen könne. Insbesondere das Virgil Practise Clavier #5736 (Typ gebaut von 1888 bis 1913) der Sammlung Dohr weist jedoch deutliche Spuren einer intensiven Nutzung auf, die auch jeden Skeptiker schnell eines Besseren belehren.
Die alten Bauformen stummer Klaviaturen haben im Zeitalter der Elektronischen Musikinstrumente ihre Daseinsberechtigung verloren: Jedes Elektronische "Clavier" wird im stromlosen Zustand zur "stummen Klaviatur". Die bei historischen Bauformen stummer Klaviaturen nicht mögliche Hör-Kontrolle des "Gespielten" wird durch Schallausgabe lediglich über Kopfhörer technisch leicht realisiert. Einzig überlebt haben die immer noch im Handel angebotenen Stummen Papp-Klapp-Klaviaturen der Edition Dux, die in jüngster Zeit Zuwachs gefunden haben durch aufrollbare, MIDI-taugliche Kunststofffolien.
© 2011-2015 by Christoph Dohr
auf Instrumenten des Pianomuseums